Das unheimliche Versprechen der Unendlichkeit

Karsten Weber

Das Feuer, das Prometheus im Mythos den Menschen schenkte und als Sinnbild für Technik schlechthin gelten kann, kompensierte all die naturgegebenen Mängel, mit denen Menschen konfrontiert sind: Es fehlen ihnen die scharfen Krallen zur Verteidigung und zur Jagd, das Fell zum Schutz vor Kälte, weder sind sie sonderlich stark an Kraft noch besonders schnell. Sie benötigen dringend eine Kompensation dieser Mängel für das Überleben in einer feindlichen Umwelt. Tatsächlich liegt nahe, den Mythos des Prometheus als erste Technikvision des Enhancements zu begreifen: Jeder Technikeinsatz diene letztlich der Kompensation menschlicher Mängel und/oder der Überwindung naturgegebener Handlungsbeschränkungen. Doch nicht nur der Mythos kann als Beleg für diese Idee herangezogen werden: Die gezielte (Selbst‑)Zufügung von Narben ebenso wie Tattoos, rituelle Verstümmelungen, die Entfernung von Teilen des Körpers, gezielte (Ver-)Formungen des Schädels oder anderer Körperteile sowie andere Körpermodifikation – alles Praktiken, die in vielen Kulturen weltweit vermutlich seit Jahrtausenden ausgeübt werden – können als Beleg angesehen werden, dass Menschen schon seit langer Zeit das Bedürfnis haben, sich nicht mit ihrem natürlich gegebenen Sosein abfinden zu müssen, sondern sich in Richtung auf einen anderen Zustand zu verbessern.

In wissenschaftlich-technisch Debatten über Enhancement stehen allerdings andere Themen im Vordergrund, bspw. die direkte Ankopplung des menschlichen Zentralnervensystems an Computersysteme über sogenannte Brain Interfaces. Dabei wird nicht nur auf die Chancen der schnelleren Datenverarbeitung oder des größeren und zuverlässigeren Gedächtnisses verwiesen, sondern auf völlig neue Wahrnehmungsmodi oder die Möglichkeit neuer Handlungszusammenhänge in virtuellen Welten. Häufig wird dies als Freiheitsgewinn angesehen; Proponenten des Enhancement hängen nicht selten radikalliberalen Ideen an. Moderne liberale Gesellschaften können dem Wunsch nach Enhancement argumentativ wenig entgegensetzen, da es in den Bereich der privaten Lebensgestaltung der Bürger*innen zu fallen scheint: Jede*r soll nach ihrer oder seiner Façon glücklich werden können, Enhancement ist nur ein weiteres Mittel zu diesem Zweck.

Das Streben nach erweiterten Möglichkeiten, nach Unendlichkeit, ist modernen, liberalen (und vielleicht auch vielen anders verfassten) Gesellschaften schon immer eingeschrieben. Bereits ohne die Möglichkeiten des Enhancement bringt die Disposition zur Grenzenlosigkeit und zum Unendlichen jedoch existenzielle Probleme mit sich – der immense Ressourcenverbrauch und die damit verbundene Umweltzerstörung bedrohen inzwischen alle Menschen. Gleichzeitig beobachten wir die Rückkehr von Tribalismus, die Beschwörung der ethnisch homogenen Nation als Schicksalsgemeinschaft und teilweise extreme Formen der Identitätspolitik, die zur Zersplitterung von Gesellschaften in sich feindlich gegenüberstehende Gruppen führt. Fügt man dem noch die Möglichkeiten des Enhancement hinzu, kann man sich leicht ausmalen, dass unterschiedlich verbesserte Menschen nicht mehr in der Lage sein werden, sinnvoll über allgemein gültige Menschenrechte zu sprechen, weil das Subjekt dieser Rechte irgendwo auf dem Weg in die schöne neue Welt des Enhancement verlorengegangen ist – zumindest ist das eine Warnung, die Jürgen Habermas schon vor rund 20 Jahren ausgesprochen hatte.

Man kann durch das Thema selbst schon irritiert sein, doch eine entscheidende Auslassung derer, die für Enhancement plädieren, um die eigene Endlichkeit zu überwinden, muss wirklich verstören. Denn es bedürfte einer Antwort auf die Frage, was wir denn mit den verbesserten Fähigkeiten erreichen, wie wir die gewonnene Lebenszeit oder gar Unsterblichkeit mit Inhalt füllen wollen. Die Forderung dieser Antwort kann man nicht mit dem Hinweis abweisen, dass es in einer liberalen Gesellschaft keine für alle Menschen verbindlichen, sondern nur individuell gültige Antworten gäbe. Diese Reaktion trivialisiert jedoch die Idee der liberalen Gesellschaft und reduziert Freiheit auf Egoismus. Sich verbessern mag sich jeweils eine Person, doch alle anderen Menschen werden viele der daraus erwachsenen Konsequenzen mittragen müssen. Sie sollten daher eine Stimme haben in der Auseinandersetzung darüber, wohin uns die Möglichkeiten des Enhancement bringen sollen.