Die gelernte Unfähigkeit zu trauern

Der Verlust eines nahestehenden Menschen geht mit Trauer für die Zurückbleibenden einher. Trauer ist ein emotional-physiologischer Zustand, der sich auch in den Gedanken und durch das Verhalten ausdrückt. Die Traueremotion ist so wesensstark, dass diese auch im Tierreich beobachtet werden kann und dies nicht nur bei den Primaten, sondern auch bei nahezu allen Säugetieren. Und obwohl trauernde Menschen sich der Art gleichen, so dass diese gut – allein aufgrund ihrer körperlichen Reaktionen (wie z.B. der Mimik) kulturkreisübergreifend – zu erkennen sind, unterliegt das mit der Trauer einhergehende Verhalten, einer starken kulturellen-gesellschaftlichen Überformung. Alle Psychotherapeuten und beruflichen Begleiter, die in im Umfeld von Trauernden arbeiten, wissen um die „psychohygienische“ Bedeutung der Trauer und dass deren – in einer einfachen Annäherung – phasenhaften Verlauf keinesfalls störungsfrei sein muss. Verena Karst hat hier die grundlegenden Arbeiten im deutschsprachigen Raum verfasst. Ein Ergebnis der Trauerforschung zeigt, dass die Zeit allein nicht alle Wunden heilt, sondern allein die Voraussetzung hierfür bietet. Nicht geleistete „Trauerarbeit“ etwa auch durch „Trauerrituale des Abschiednehmens“ ermöglicht, können als Gefährdung für die betroffene Person und deren weiteres Leben aber auch für deren soziales Umfeld bewertet werden. Durchaus vergleichbar mit den posttraumatischen Störungen.

Von dem durch die Corona-Pandemie verursachten Sterben sind viele Millionen – nun trauernde – Familien betroffen. Am 6.4.2022 sind in Deutschland 277 Personen an COVID-19 gestorben. Insgesamt 130.014 (Weltweit 6.191.052). Um die Zahl zu visualisieren: 277 Personen entspricht genau der Passagierzahl einer Boeing 777.

Das Ehepaar Magarete und Alexander Mitscherlich hatten – nicht zuletzt unter den Erfahrungen der Zeit nach dem 2. Weltkrieg – ihre Aufmerksamkeit auf die Trauer als gesellschaftliches Phänomen gerichtet. Aufgrund der Beobachtung der Nürnberger Ärzte NS-Prozesse und der deutschen Nachkriegsentwicklung, attestierten sie den Deutschen eine – in mehrfachen Sinn (sic) – weitgehende „Unfähigkeit zur Trauer“, als dessen Resultat man sich selbst als Opfer fühle, nicht als Täter. Kompensiert worden sei die eigentlich nach dem Krieg notwendige Reflektions- und Trauerarbeit, durch Verleugnung und damit einhergehenden Agieren, das bis hin zur Ermöglichung des „Wirtschaftswunders“ gereicht habe. Zugleich sei absehbar, dass, sowohl auf individueller, familiärer als auch gesellschaftlicher Ebene – ein hoher Preis für diese Abwehr bezahlt werden würde, wie die nachfolgenden Generationen dann auch zu berichten wussten. So zeichneten etwa strukturelle Gewalt nicht nur zahlreiche Organisationen – bis hin zur Schule und den Kirchen – sondern auch die Mehrzahl der Elternhäuser aus.

Kollektive und öffentliche Trauerarbeit ganz im Sinne Sigmund Freuds: Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten zu ermöglichen, gelingt etwa durch die Praxis der Erinnerungskultur. Die auf Initiative des Bundespräsidenten Frank Steinmeier durchgeführte Gedenkfeier für die in der Corona Pandemie Verstorbenen im April 2021 ist ein Beispiel hierfür. Das entfernte Schicksal wird nahbar.

Als Deskilling bezeichnet man den Prozess, der zum Verlust von Fähigkeiten führt. Dies ist nicht nur auf individueller, sondern auch auf der Ebene von Gruppen und Gesellschaften zu beobachten. Bisherige personale aber auch technische und soziale Kompetenzen (Skills) werden nicht allein vergessen, sondern verschwinden vollständig – da diese nicht mehr vermittelt und abgerufen werden – aus dem Befähigungsrepertoire. Dies kann Fähigkeiten betreffen, deren Beherrschung ganze Generationen auszeichneten.  Anstelle dessen werden in der Regel neue Skills erworben. Verursacht auch, weil sich die äußeren Anforderungen verändert haben. Was sich normal anhört, das Altes durch Neues ersetzt wird, kann sich bei genauerer Betrachtung für verschiedene Deskillings als nicht unproblematisch erweisen. Ärzte, welche die Schuleignung bei Kindern ermitteln aber auch Pädagogen und Ausbilder wissen von entstandenen Defiziten unterschiedlichster Kompetenzebenen zu berichten. Aber auch all diejenigen die mit Trauer professionell befasst sind wie Friedhofsgärtner und Gestalter, Bestatter und Psychotherapeuten könnten dies.

Insgesamt ist es ruhig geworden um die Bemühungen der Psychologie, Psychoanalyse und Soziologie die emotionale Verfasstheit ganzer Gesellschaften oder großer Gruppen zu ergründen bzw. gar eine Art Monitoring aufzulegen. Kollektive Emotionalitäten zu erfassen und deren Verlauf zu beschreiben ist schwierig, erscheint auch kaum attraktiv. Kein Wissenschaftler möchte sich dem Verdacht der „Völkerwissenschaft“ ausgesetzt sehen. Empirische Hinweise entstehen so eher am Rande der gewählten Arbeitsprogramme. Um die emotionale Verfasstheit von Gesellschaften wissen wohl am ehesten die Betreiber der „sozialen Medien“ und andere “Micro-group-targeting Marketer“ Bescheid, die Ihre Kundenkommunikation nicht zuletzt nach den big 5 der Persönlichkeitspsychologie sortieren.

Häufig resultieren aus fehlenden Erfahrungen – wie z.B. dem Erlernen des Umgangs mit eigener und der Trauer Dritter – und fehlender Modelle (wenige vertrauen sich heute noch einer religiös-kirchlichen Botschaften oder Repräsentanten an) die zu beobachtende, weitverbreitete Unbedachtheit, die es der eigenen Trauerfähigkeit sehr schwer macht und in dessen Folge kaum Empathie und Mitleid für die Verstorbenen und deren Angehörigen entstehen. Wird menschliches Verhalten, das dem Ziel der Beeinflussung des persönlichen Umfeldes dient, nicht verstärkt – vielleicht sogar bestraft – kann dies über den Verlust des motivationalen Antriebs hinaus, in dem Zustand eigener Hilflosigkeit enden.