Sterben als Teil des Lebens, nicht nur in Zeiten der Pandemie

von Karsten Weber & Wolfgang George

In seinem Brief an Menoikeus schreibt Epikur: „Das schauerlichste Übel also, der Tod, geht uns nichts an; denn solange wir existieren, ist der Tod nicht da, und wenn der Tod da ist, existieren wir nicht mehr.“ Wer über den Tod nachdenken oder schreiben will, kommt kaum an den Schriften der antiken Philosophen vorbei – und befindet sich dann mitten in der Philosophiegeschichte, die bis heute vorangetrieben wird. Dabei wäre zu betonen, dass diese Geschichte mehr umfasst als die europäisch geprägte Philosophie; denn die Welt ist weitaus größer und es gibt viele andere philosophische Traditionen, die mit einer bloß eurozentristischen Perspektive nicht im Ansatz erfasst wären.

Die philosophischen Fragen im Zusammenhang mit dem Tod sind zahlreich: Was ist der Tod? Ein Ende des Seins oder ein Übergang in eine andere Existenzform? Wie sieht diese andere Existenzform aus? Ist der Verlauf des Lebens von der Geburt über das diesseitige Leben bis zum Tod und einer danach folgenden Existenz ein linearer Prozess oder ein zyklischer, der sich potenziell ewig wiederholt? Oder gibt es einen Endpunkt, auf den dieser Prozess hinzielt?

Man kann aber auch fragen: Kann (und soll) man im Hier und Jetzt für die Existenz nach dem Tod vorsorgen? Wenn der Tod das Ende der eigenen Existenz markiert, was bedeutet das für die Gestaltung des Lebens? Gibt es einen guten und einen schlechten Tod? Wie stirbt man gut? Daran schließt sich die Frage an, ob es eine moralische Pflicht gibt, anderen Menschen dabei zu helfen gut zu sterben, was sofort die Frage provoziert, ob es dabei Grenzen des Helfens gibt, die selbst bei Vorliegen der besten Absichten nicht überschritten werden dürfen.

Sterbeorte und Verlegungen am Ende des Lebens

Aus praktischer Sicht stellen sich aber sehr viel basalere Aufgaben, die dabei aber nicht einfach zu lösen sind. Die COVID-19-Pandemie lässt wie unter dem Brennglas sichtbar werden, was schon vor der Pandemie im Argen liegt, wenn es um das Sterben geht. Denn die Orte bzw. die Institutionen, in deren Obhut Menschen sterben, sind schon unter Normalbedingungen nicht optimal darauf vorbereitet, ein gutes Sterben zu ermöglichen. Im Folgenden soll daher auf ein zentrales Problem aufmerksam gemacht werden: Verlegungen der Patienten zwischen Versorgungsorten bzw. Versorgungseinrichtungen am Ende des Lebens Wenn wir nach guten Bedingungen des Sterbens (nicht nur) in Zeiten von COVID-19 fragen, dann muss eine zentrale Überlegung dabei sein, wie (unnötige) Verlegungen zwischen Versorgungsorten bzw. Versorgungseinrichtungen vermieden werden können. Denn selbst dann, wenn der Tod uns nichts angehen sollte, wie Epikur meinte, so geht uns doch das Sterben sehr viel an. Die großen Fortschritte der Medizin verlängern oftmals die Zeit des Sterbens und haben diesen in einen hochgradig durchorganisierten und institutionalisieren Prozess transformiert. Die Gefahr, die sich daraus ergibt, ist, dass die Person, die eigentlich im Zentrum dieser letzten Phase eines Lebens stehen sollte, in den Hintergrund tritt.

Gleich, welche Umfrage man heranzieht: Die überwältigende Mehrheit der in Deutschland lebenden Menschen möchte zuhause sterben, doch nur 20% sterben tatsächlich dort – drei Viertel aller Sterbefälle finden im Krankenhaus oder im Pflegeheim statt. Begreift man die Wahl des eigenen Sterbeortes als Ausdruck der Selbstbestimmung einer Person, so muss diese Diskrepanz irritieren. Sie kommt zustande, weil die Sterbenden häufig sowohl zwischen unterschiedlichen Versorgungssektoren, bspw. aus einem Pflegeheim in ein Krankenhaus, als auch innerhalb der jeweiligen Versorgungseinrichtung, z.B. von der Allgemein- auf die Intensivstation, verlegt werden. Bei etwa einem Fünftel der Sterbefälle in Krankenhäusern und ungefähr 25% der Sterbefälle in Pflegeheimen kommt es vorher zu Verlegungen. Wie entstehen diese Zahlen?

Faktoren, die das Verlegungsgeschehen beeinflussen

Verlegungen finden statt, weil das ärztliche Selbstverständnis bis heute erheblich durch das Ziel der Heilung geprägt ist; im Vordergrund steht also die Behandlung einer Krankheit, die bspw. im Pflegeheim oder in der häuslichen Umgebung nur begrenzt durchgeführt werden kann. Diesem Ziel der Heilung steht die Perspektive gegenüber, dass Therapie ab einem bestimmten Punkt nicht mehr auf Lebensverlängerung, sondern auf Begleitung der Sterbephase und Sicherung der Lebensqualität ausgerichtet sein müsse. Dieser Wandel scheint aber vielen professionellen Stakeholdern nach wie vor schwerzufallen.

Aufgrund von Personalmangel und daraus resultierender Überforderung gibt es eine hohe Verlegungsrate vor längeren Feiertagen oder Wochenenden. Angesichts prekärer Situationen in den Krankenhäusern mit einer Pflegekraft für 30 Betten kann es nicht verwundern, wenn Verlegungen in die Intensivstationen vorgenommen werden. Die häufig für die Betreuung sterbender Patienten nicht hinreichende Qualifikation des behandelnden Personals beispielsweise in Hinblick auf Sterbebegleitung wirkt hier verschärfend. Mangelnde Kommunikation der in die Pflege involvierten Stakeholder, schlechte Informationsweitergabe zwischen Notärzten, Leitstelle und Pflegeheim und die fehlende hausärztliche Einbindung erschweren das Verlegungsgeschehen für die sterbende Person. Durch unzureichende Kommunikation und Unwissenheit entstehen Kompetenzstreitigkeiten im multiprofessionellen Betreuungsteam, was zu Handlungsunfähigkeit führen kann. Aufgrund mangelnder Pflegedokumentation kennt der ärztliche Bereitschaftsdienst die medizinische Vorgeschichte der sterbenden Person oft nicht ausreichend gut, so dass als Vorsichtsmaßnahme Verlegungen ins Krankenhaus vorgenommen werden.

Ursache von Verlegungen kann zudem sein, dass SAPV-Teams (Spezialisierte Ambulante Palliativversorgung) oft nur bi-professionell (pflegerisch und ärztlich) ausgerichtet sind, da weitere Fachbereiche nicht von den Kostenträgern finanziert werden, so dass Leistungen wie der Psychologie, des Sozialdienstes, der Physiotherapie oder der Seelsorge nicht berücksichtigt werden. Schließlich besteht bei palliativen Notfällen oft Druck vonseiten der Angehörigen, die das Sterben nicht akzeptieren wollen, was dann zu Klinikeinweisungen führt.

Dies sind nur einige der Faktoren aufseiten der Versorgungseinrichtungen, die zu belastenden Verlegungen führen. Doch es gibt weitere Faktoren, denn Verlegungen können aus dem Wunsch der Sterbenden entstehen, nicht allein zu sterben, sondern von nahestehenden vertrauten Menschen umgeben zu sein, sofern dieser Wunsch am aktuellen Aufenthaltsort nicht gewährleistet ist. Ein zentrales Bedürfnis der Sterbenden ist zudem Schmerzfreiheit; dies versucht die Palliativmedizin seit geraumer Zeit auch zu bedienen. Palliativmedizinische Abteilungen und Hospize sind in dieser Hinsicht sicher auf diese Aufgabe besser vorbereitet als die häusliche Umgebung oder auch Pflegeheime – eine Verlegung an diese Orte kann also sinnvoll erscheinen, aber mit anderen Wünschen der Sterbenden in Konkurrenz stehen.

Oft begreifen Sterbende ihren Tod und den Weg dahin als Versagen oder Belastung anderer Personen – gerade gegenüber den Angehörigen. Daher darf deren Rolle im Kontext des Sterbegeschehens nicht außeracht gelassen werden. Bestimmte Symptome wie die rasselnde Atmung, die sich am Ende des Lebens zeigen, können für Angehörige sehr belastend sein. Überhaupt kann sich die Begleitung Sterbender vor allem in den letzten Tagen und Stunden in einem belastenden und schwer zu überwindenden Trauma manifestieren. Die Angst der Angehörigen, der pflegebedürftigen Person nicht mehr helfen zu können, nimmt zu und wird oft durch die Last der zu treffenden Entscheidungen – auch durch mangelndes Wissen – noch verstärkt. Diese Situation wird durch Ungewissheit, Angst vor dem Tod und dem Alleinsein aufseiten der nächsten Angehörigen verschärft. Zusätzlich droht den Angehörigen die Gefahr einer sozialen Isolation, da bei einer intensiven Betreuung der Sterbenden kaum mehr Zeit und vielleicht auch Kraft für die Pflege der eigenen sozialen Kontakte übrigbleibt. Mit diesem „social death“ einhergehend besteht das Risiko, dass pflegende Angehörige Depressionen entwickeln – dies trifft insbesondere Frauen.

Was wäre zu tun?

All die genannten Aspekte erschöpfen beileibe nicht die Faktoren, die zu Verlegungen führen. Das Sterben einer Person bringt viele weitere Menschen in eine Ausnahme- bzw. Notfallsituation, die extrem belastend sein kann. Eine moralische Verurteilung insbesondere der Angehörigen, die die Verlegung einer sterbenden Person veranlassen, wäre daher verfehlt. Wie in anderen medizinischen und pflegerischen Kontexten auch wird bei einer genaueren Betrachtung deutlich, dass bei Verlegungsentscheidungen zahlreiche widerstreitende Interessen, moralische Ansprüche und medizin-pflegerische sowie soziale Anforderungen vorliegen. Für die Dilemmata, die daraus entstehen, gibt es in den allermeisten Fällen keine wirklich gute Lösung, weil so unterschiedliche Ansprüche, Interessen, Normen und Werte aufeinandertreffen.

Derzeit scheint in der Diskussion das Pendel dahingehend auszuschlagen die Autonomie sterbender Personen in den Vordergrund zu rücken. Historisch gesehen, war das nicht immer so und muss nicht so bleiben. Angesichts der schon andauernden Problematik der Finanzierung all der Maßnahmen, die notwendig wären, um bei Wahrung der Autonomie die erforderlichen Versorgungsleistungen anbieten zu können, ist zumindest denkbar, dass Verteilungs- und Gerechtigkeitsfragen wieder stärker in den Vordergrund rücken könnten. Die individuell wie gesellschaftlich traumatischen Erlebnisse im Zuge der Corona-Pandemie sollten für jeden Einzelnen wie für die Gesellschaft in jedem Fall Anlass genug sein, über mögliche Antworten auf die letzten Fragen des Lebens nachzudenken und weniger aufgeregt, aber dafür ernsthafter über das Sterben zu sprechen, als dies derzeit geschieht. Denn der Tod mag uns nichts angehen, das Sterben aber umso mehr.