Voraussetzungen, damit Menschen ihr Wissen um die eigene Endlichkeit nutzen können

Zur Evidenz des Anliegens

Die Menschen wissen zwar, dass ihre Lebenszeit endlich ist, allein, es scheint als zögen daraus zu wenige die sich ergebenden Schlussfolgerungen für ihr Leben. Denn es sollte sich bei diesem Wissen – um die Begrenzung der eigenen Lebenszeit – nicht nur um ein mehr oder weniger abstraktes kognitives Wissen handeln, sondern um ein – im wahrsten Sinne des Wortes – existentielles Verstehen. Verständnis, welches nicht folgenlos für die eigene Lebensspanne bleiben sollte. Demgegenüber geht eine weitgehende Verleugnung, Verdrängung oder ein „Nicht wahr haben wollen“ mit erheblichen Spät- und Nebenwirkungen einher. Folgen, die nicht nur das eigene Leben, sondern auch die soziale, gesellschaftliche und eben auch die natürliche Umwelt betreffen.

Normalität und Absehbarkeit

Wird das Versterben einer 80-jährigen Person angenommen, dem ungefähr durchschnittlichen Sterbealter, wird nicht nur die „Normalität“ und „Absehbarkeit“ des Geschehens sichtbar, sondern auch wieviel Lebenszeit und sicher auch biographische Gelegenheiten es gegeben hatte, sich mit der eigenen Endlichkeit zu befassen. Demgegenüber steht der Befund, dass die meisten Menschen –  wenn auch um die Vergänglichkeit ihres Lebens wissend – zwar ab einem gewissen Alter über ein Testament, aber eben nicht über substanziellere Überlegungen bezüglich ihrer letzten Lebensphase verfügen.

Vorausschauendes Leben

Diese unzureichende Befassung führt dann häufig zu Problem- und Konfliktlagen im letzten Lebensabschnitt. In den angelsächsischen Ländern hatte dies zur Folge, dass ein Konzept der vorausschauenden Planung (Advance Care Planning) entwickelt wurde. Ein Vorgehensprozess, der zwischenzeitlich auch das deutsche Versorgungswesen erreicht hat.  Hier wurde das Prinzip in einem 2015 verabschiedeten Gesetz zur Verbesserung der Hospiz- und Palliativversorgung (HPG) eingeführt. Zwischenzeitlich ist die gesundheitliche Versorgungsplanung in der letzten Lebensphase nach SGB V § 132 Abs 3 regelmäßige Praxis in Pflegeheimen und Einrichtungen der Wiedereingliederungshilfe. Praktisch bedeutet dies, dass sich frühzeitig und kontinuierlich mit den Bewohnern (Patienten), Angehörigen, dem Hausarzt u.a. notwendigen Personen über den angestrebten Ablauf des Lebensendes abgestimmt werden muss.

Die eigentliche Auseinandersetzung

Dieses durch professionelle Akteure vorgetragene Vorgehen klärt nicht die Frage, warum häufig erst so spät und warum es eines professionellen Anlasses bedarf, um sich mit zentralen Konsequenzen des eigenen Sterbens und der hiermit verbundenen Endlichkeit zu befassen. Zu diesem „professionell definierten“ Zeitpunkt ist es für vieles zu spät. Versäumtes kann, wenn überhaupt, nur bedingt nachgeholt werden. Folgewirkungen eigener Verleugnung können nicht mehr aufgehoben werden. Dies ist nicht die Aufgabe des ACP-Prozesses, zeigt jedoch dessen Grenzen und auch neue Schwierigkeitslagen auf. Auch wenn für eigentlich die Aussage gilt, dass es für den Menschen nie zu spät wäre notwendige Klärungs- und Entscheidungsprozesse zu führen.

Gesellschaftlicher Auftrag

Nun soll an dieser Stelle nicht der Frage nachgegangen werden, welche individuellen, kulturell-gesellschaftlichen, politischen oder religiösen Ursächlichkeiten der Verleugnung der Eigenen Endlichkeit Vorschub geben bzw. diese begründen. Vielmehr sollen einige Anregungen aufgezeigt werden, was durch gesellschaftspolitisches Handeln möglich wäre.

Der bis heute nicht eingelöste Bildungsauftrag

Dass Bildung allein nicht hinreichend zur Bewältigung der Lebensaufgabe „sich mit der eigenen Endlichkeit zu befassen“ ist, bedeutet natürlich nicht, dass die Anliegen der Thanatologie (Lehre vom Umgang mit Tod und Sterben) hierfür nicht dringend und an erster Stelle notwendig wären. Auch vor diesem Fakt, wird sich in verschiedenen Kapiteln mit Auftrag, Ziele und Methoden in der Schule, Ausbildung, in der Erwachsenenbildung und darüber hinaus befasst. Sich mit der Art und Form eines zeitgemäßen Bildungsauftrages zu befassen ist notwendig, denn die bisher z.T. aufwendig entwickelten und zur Verfügung stehenden Inhalte, Curricula, Methoden aber auch gesammelten Erfahrungen werden keinesfalls in der notwendigen Weise abgerufen bzw. reflektiert. Gerade weil dies so ist, dass obwohl auf das Lebensalter, die Lebenssituation und Zielstellung hin didaktisch anwendbares Material zur Verfügung steht, gelingt es nicht oder doch nur sehr unzureichend, – etwa die Schulkinder oder die einzelnen Fächer wie Biologie, Religion, Kunst, Ethik etc. – dieses Bildungsziel zu erreichen.

Der bis heute nicht sichtbare Sozial- und Gesundheitspolitische Auftrag

Vielmehr ist es so, dass der notwendige rechtliche Rahmen und die aus diesem resultierende Festlegungen fehlen. Gesundheitspolitisch bzw. sozialrechtlich sollte die lebenslang zu führende Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit aufgrund des § 20 SGB V Primäre Prävention und Gesundheitsförderung begründet und verbindlich hinterlegt werden.

Eigene Endlichkeit als Gegenstand der Prävention

Sowohl für die Auseinandersetzung im Sinne einer primären Prävention als auch den Zielen der Gesundheitsförderung folgend, könnten bereits bestehende Strukturen, Angebote und regional gültige Vorgehensweisen genutzt bzw. für den speziellen Gegenstand, in der Logik einer lebenslangen Prävention folgend, erweitert werden. Das Prinzip einer vorausschauenden gesundheitlichen Planung, bisher auf die letzte Lebensphase fokussiert, könnte weit früher (z.B. Ü20, Ü30, Ü40 uswf.) eingeführt werden. Die Kampagne zur Erhöhung der Bereitschaft Organe transplantieren zu lassen kann als ein Beispiel für eine (wenn auch nicht sehr erfolgreiche) Öffentlichkeitskampagne gesehen werden und zeigt welcher Aufwand an anderer Stelle betrieben wird. Nun ist der präventive Anteil der Gesundheitsversorgung in Deutschland nicht überausgeprägt, wie gegenwärtig in der Auseinandersetzung mit der Corona Pandemie leidvoll erfahren wird. Diese Erfahrungen zeigen auf, dass nicht nur der öffentliche Anteil (Public Health) präventiven Handelns in den letzten Jahrzehnten nochmals weiter in den Hintergrund getreten ist, sondern auch wie groß die Defizite auf Seiten der Bevölkerung, einzelner Gruppen und Menschen ist, sich präventiv-vorausschauend zu verhalten. Von einfachen Hygieneregeln bis hin zur Notwendigkeit und eigentlichen Unverhandelbarkeit von Impfungen. All dies sind vorläufige Endpunkte einer problematischen Entwicklung, die nicht nur von bildungsfernen Menschen oder profitorientierten Interessen gekennzeichnet ist.

Soziale Kippunkte

Klar ist aber auch, dass wenn erst einmal kritische Schwellenwerte erreicht sind – um nicht in die Analogie von möglichen Kippunkten zu geraten – Lösungen, obwohl dringender denn je notwendig, nicht einfach auf den Weg zu bringen sind. Und sind sie es denn dann endlich, nicht immer ein rascher Erfolg eintreten muss. Erschwerend tritt hinzu, dass der Leidensdruck (der in der Präventionsforschung eine wichtige Rolle besitzt) in weiten Teilen der Bevölkerung sowie erneut auch bei geneigten Interessenvertretern bis heute gering ausgeprägt ist. Gleichwohl wäre das inhaltliche Präventionsprogramm, bei welchen Akteuren und Instituten Anschluss genommen wird und wie Alters-, Lebenslagen- und Biographiegerecht vorgegangen werden muss, klar und leicht zu identifizieren.

Ausblick

So wie die in Deutschland über 101.396 (Stand 27.11.2021) Covid Verstorbenen, das persönliche (auch Denk-) Verhalten viel zu Vieler nicht beeinflusst, so erkennnt eine wahrscheinlich noch größere Gruppe die Auswirkungen des sich zusehend auswirkenden Klimawandels bis heute nicht.

Und die eigentlich doch so offensichtlichen Verwundungen und Schädigungen des geographischen aber auch des sozialen Lebensraums in welchem die Menschen ihr Leben führen, werden von zu wenigen erkannt, problematisiert und allzu wenig kritisch angesprochen.

Das Thema Endlichkeit und damit auch die persönliche Endlichkeit, wird zu einem „gesellschaftlichen Thema“ werden. Entweder als Gegenstand einer aufgeklärten, humanen, zukunftsfähigen Gesellschaft oder aber als weiterhin bestehende Irritation eines getriebenen, nur reagierenden, zuletzt als demokratisches Modell überforderten Staatswesens, in welchem immer mehr Menschen auf die eindrucksvollen Lösungsangebote von Harry Potter und Tatortrechtsmedizinern regelrecht angewiesen sind.