Wolfgang Beutin

Aufgewachsen in Bremen und während des 2. Weltkriegs nach Ausbombung in verschiedenen Städten. Studium der Germanistik und Geschichte in Hamburg und Saarbrücken. Assistent und Hochschuldozent an der Universität Hamburg, Gastprofessor und -dozent an vier anderen norddeutschen Universitäten, Privatdozent an der Universität Bremen. Lehrtätigkeit, Forschungen und Veröffentlichungen insbesondere zur Sprach- und Literaturgeschichte des Mittelalters, der frühen Neuzeit und des Vormärz.

„Wir liegen unter dem Fuße des Todes“ – Formen der Einstellung zur Endlichkeit in Erzählungen des kritischen Realismus (19. Jahrh.)

Die These, daß „fehlende individuelle und gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Endlichkeit“ (Wolfgang George) zu den Kennzeichen der Gegenwart gehöre, ermuntert zu fragen: seit wann? Ist es berechtigt, von einem Wandel der Einstellung in den Epochen zu sprechen, und wo wären die Zeugnisse?

Sie finden sich z. B. in der Literatur des Mittelalters, in der Gattung der „ars moriendi“. In der deutschen Dichtung der beginnenden Neuzeit ist etwa der vieldiskutierte „Ackermann aus Böhmen“ zu nennen (Johann von Tepl; 1400). Auch im neueren Schrifttum existieren Texte, die zu prüfen wären, ob sie als Beiträge zu der o. e. Auseinandersetzung gelesen werden können. In einer Novelle (1863/64) klingt es pessimistisch auf: „Weh, es ist keine Rettung in der Welt vor der Welt“, nachdem ein junges unschuldiges Mädchen von einer fanatisierten Menge vermittels Steinwurfs getötet worden ist. Der Vater des Kindes äußert: „Mein Kind lebt; aber wir, die wir Atem holen, liegen unter dem Fuße des Todes.“

Von Formen der Endlichkeit zu sprechen, heißt u. a., sie zu unterteilen:

… in eine begrüßenswerte Endlichkeit: Sehnsucht „nach ein und demselben Reiche der ungestörten Ruhe, des ewigen Friedens“ (1884). – „Ja, Beth-Chaim! Wohl wurde mir dieser Kirchhof zu einem ‚Haus des Lebens!‘ “ (1863)

… und in eine abzuweisende, wenn die „Endlichkeit“ eine von fremder Hand herbeigeführte ist, der Tod eine Tötung. Darunter im Kriege. Über einen Krieger, den Holländer Georg van der Does, heißt es: „Wo er der Welt nicht mit dem Schwert und der Pistole zu Leibe gehen kann, da hat sie keinen Sinn für ihn!“ (1861/65) – Endlichkeit als Ermordung, die Mordtat aus Fremdenhaß und Aberglauben (das durch Steinwurf ermordete Migrantenmädchen). – Tötung als Bestrafung, weil das Opfer dem Askese-Gebot zuwider handelte (1883). – Vom Opfer selbst angeordnete Tötung (der „Junker von Denow“, zum Tode verurteilt, läßt sich von seinem Knappen vor dem Hinrichtungstermin erschießen, um der schmählichen Erhängung zu entgehen; voreilig jedoch, denn der Bote mit dem Gnadenerlaß ist gerade unterwegs; 1858).

Endlichkeit, die besondere Umstände verursacht: Ein Armer benutzt die Leiche seiner Frau als „Waffe“, indem er verbietet, sie auf dem Dorffriedhof beizusetzen, weil die Dörfler ihn mit Familie nur außerhalb des Dorfs wohnen ließen (1884). – Eine mehrfach wiederholte Beisetzung: religiöse Gemeinden exhumieren einen verstorbenen Honoratior, weil jede die Gläubigkeit des Verstorbenen anzweifelt (1865/66). – Zwei Kinder (Junge, 13 J.; Mädchen, 8  J.) einer arm verstorbenen Mutter halten an der Leiche Totenwache, müssen den Sarg beschaffen und die Bestattung besorgen (1887). – Tod und Armut: die Großmutter eines ertrunkenen Enkelkindes verlangt von Leichenschauhaus die Herausgabe seiner Jacke, eine Geste, die der Arzt mit Widerwillen registriert: „O die Armut … die bittere, häßliche Not.“ (1874)