Eckhard Dommer, Dr.

Soziologie

Aktuelle Arbeistsschwerpunkte: Stadtsoziologie, Sozialforschung, Statistik

Eckhard Dommer (* 1955) ist Soziologe. Er hat nach einem sozialwissenschaftlichen Studium an der Justus-Liebig-Universität Giessen zum Thema Lebensstile promoviert. Seine weiteren Arbeitsgebiete sind die Stadtsoziologie, empirische Sozialforschung und Statistik. Er hat zu diesen Themen verschiedentlich publiziert. Bis zu seinem Ruhestand hat er im Bereich Statistik für verschiedene pharmazeutische Unternehmen gearbeitet.


Kapitel: “Soziologische Grundlagen und Theorien”


Eigene Endlichkeit und die Grenzen des Wachstums, Notizen zur Individualisierung sozialer Zeit und der Entstehung einer entfesselten Wachstumsgesellschaft. 

50 Jahre nach der ersten Publikation der Grenzen des Wachstums (Meadows et al., 1972) sind wir weit entfernt von einer fächerübergreifenden Diskussion und Reflexion zu einer balancierten Lebensweise. Die Autoren haben damals von einem notwendigen Gleichgewicht, von einem Verzicht auf weiteres quantitatives Wachstum geschrieben, aber soweit ich sehen kann, ist davon wenig bis nichts umgesetzt. Wir leben heute wie damals in einer Gesellschaft des quantitativen Wachstums. Anders als zu Beginn der Aufklärung scheint heute eine fächerübergreifende, wissenschaftliche Diskussion in den hochdifferenzierten modernen Gesellschaften schwierig, man neigt zu partiellen, technischen Lösungen.

Es lässt sich absehen, dass zur Lösung der Probleme der Umweltverschmutzung (insbesondere der Klimaerwärmung) und Uebernutzung natürlicher Ressourcen erhebliche Anstrengungen in verschiedenen Segmenten der Gesellschaft dringend notwendig sind und diese Tendenz zunehmen wird.

In den Sozialwissenschaften wird das Problem einer Uebernutzung der Natur oder Umwelt stiefmütterlich behandelt. Niclas Luhmann hat 1988 nüchtern festgestellt, dass Natur oder Umwelt als Ressource in der klassischen Soziologie gar nicht vorkommen.

In diesem Artikel möchte ich zeigen, wie mit der Individualisierung sozialer Zeit neben anderen Faktoren gravierende Fundamente zum Aufbau einer entfesselten, beschleunigten Wachstumsgesellschaft gelegt wurden.

Eigene Endlichkeit ist in einer von monotheistischer Religiosität geprägten Feudalgesellschaft nicht vorstellbar, innerhalb der Nachantike ist der Begriff der eigenen Endlichkeit erst mit dem säkularisierten Individuum denkbar.

Ausgehend von einer religiös-definierten «ewigen», zyklischen Zeit in den hierarchischen Feudalgesellschaften, über die Säkularisierung als gemessene Zeit, die der Disziplinierung und religiös-begründeten Arbeitsethik, letztlich der Rationalisierung des Handels, der Produktion und Wissenschaft diente und eine kapitalistische Welteroberung durch stetige Kapitalakkumulation möglich macht (Max Weber sprach vom Geist des Kapitalismus), und der Zeit als Kontemplation, verbunden mit luxuriöser Verschwendung der Begüterten und Aufgestiegenen (Werner Sombart), möchte ich den Weg zum «kurzen» Leben in der modernen, zeitgenössischen Gesellschaft beschreiben.

Das individuelle Leben in den hochdifferenzierten, modernen Gesellschaften erscheint kurz (vita brevis). Das klingt paradox, da die Lebenserwartung seit dem Frühmittelalter um mehr als das Doppelte gestiegen ist. Aber das Leben der Individuen hat heute in den westlichen Wachstumsgesellschaften für die meisten ein definites Ende, das war im Mittelalter anders, das irdische Leben wurde als eine Vorbereitung auf das erlösende himmlische Leben angesehen.

Das Wissen um die eigene Endlichkeit fokussiert zunächst die Gegenwart, das Jetzt und entwertet Zukunft ausserhalb der eigenen Lebensspanne. Das Paradies kann nur jetzt oder in sehr naher Zukunft stattfinden, Pläne und Wünsche müssen schnell umgesetzt werden.

Diese Betonung der Gegenwart oder der nahen Zukunft als Horizont generiert einen Erlebnishunger und einen Erlebnismarkt. In einer paradoxen Reaktion führt das Wissen um die eigene Endlichkeit zu einem stärkeren Konsum, der zu weiteren Umweltschäden und Umweltbelastungen führt, und zu mehr «Arbeitsleistung», die der Kapitalakkumulation und Optimierung der Produktion dient.

Eine Reflexion, Auflösung oder Neuinterpretation dieser Fixierung, ein Weg oder Wege in eine Postwachstumsgesellschaft erscheinen schwierig, da neben anderen wichtigen Interventionen auch eine grosse Anzahl von Akteuren letztlich von einem gewissen Verzicht bzw. einer Umstellung der Lebensumstände überzeugt werden müssten, daran hat sich seit 1972 nichts geändert.