Jessica Heesen, PD Dr.

Philosophin

Aktuelle Arbeitsschwerpunkte: Technikphilosophie, Medienethik, Ethik der Digitalisierung, Sozialphilosophie

Leiterin des Forschungsschwerpunkts Medienethik und Informationstechnik am Ethikzentrum der Universität Tübingen. Studium der Philosophie in Köln und Tübingen, Promotion (Universität Stuttgart) zum Wandel von Öffentlichkeit durch digitale Medien; Habilitation am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) zu den wissenschaftstheoretischen Herausforderungen der Medienethik durch Medialisierung und Datafizierung. Autorin zahlreicher Fachbeiträge zu medienphilosophischen und – ethischen Themen und zur Ethik der Künstlichen Intelligenz, darunter das Handbuch Medien- und Informationsethik.


Kapitel: “Verstorbene als Medienprodukt.
Die Programmierung von Unendlichkeit als philosophische Herausforderung.”


Digitale Technologien bestimmen zunehmend unser Leben – sie beeinflussen jedoch auch mehr und mehr den Umgang mit Tod, Trauer und Erinnerung. Technologien im Kontext der Digital Afterlife Industry (DAI) ermöglichen das „Weiterleben“ und die Interaktion mit digitalen Repräsentationen von Verstorbenen als Avatar, als Chatbot oder als Absendern von Textnachrichten. Das bedeutet, dass der Nutzer eines entsprechenden Dienstes bereits zu Lebzeiten an seinem digitalen Vermächtnis arbeiten kann. Die Person kann durch Filme, Berichte, Dokumente und Daten, die sie zur Verfügung stellt, Anwendungen vorbereiten, die nach ihrem Tod in verschiedenen Weisen genutzt werden können. Etwa als bewegliches und sprechendes Abbild der eigenen Person (einem Avatar), das mit den Kindern des Verstorbenen oder anderen Interessierten kommuniziert und Fragen beantwortet. Es kann auch ein einfacherer Dienst gewählt werden, der nur die jährlichen Geburtstagswünsche des Verstorbenen an die Verwandten und Freunde beinhaltet.

Darüber hinaus ist es möglich, dass die Angehörigen einer Verstorbenen selbstständig über Fotos und Stimmmaterial Medieninhalte erzeugen. So kann mithilfe der Fotos von Verstorbenen ein bewegliches Bild mit der Mimik der abgebildeten Person hergestellt werden. Es ist auch möglich, die Stimme von Verstorbenen für Audioinhalte oder zum Singen zu verwenden.

Der Kontext des Themenfelds „digitales Weiterleben“ umfasst ein großes Spektrum von neuen ethischen Fragestellungen. In Bezug auf die Endlichkeit des menschlichen Lebens stellt sich etwa das Problem des Abschaltens des Avatars einer verstorbenen Person. Wer entscheidet über den digitalen Tod? Belastet oder erleichtert die digitale Präsenz der Toten den Trauerprozess oder auch das eigene Sterben?

Ein mediales bzw. digitales Vermächtnis war bislang nur Persönlichkeiten vorbehalten, deren Weiterleben in den Medien im öffentlichen Interesse war oder als Kulturgut angesehen wurde. Mit den neuen Möglichkeiten der Überwindung der eigenen Endlichkeit kann man von einer Demokratisierung der öffentlichen Erinnerungskultur sprechen, für die neue Wege eines würdevollen Umgangs mit dem Erbe der Verstorbenen und der Trauer der Hinterbliebenen gefunden werden müssen.